Frühkindlicher Autismus bei Babys & Kleinkindern: Das Kanner-Syndrom

Frühkindlicher Autismus manifestiert sich schon in den ersten Lebensjahren und geht meist mit schweren Beeinträchtigungen des zwischenmenschlichen Miteinanders und der emotionalen und geistigen Entwicklung einher. Häufig treten auch Sprachentwicklungsstörungen auf. Das beeinträchtigt zwangsläufig das Kommunikations- und Sozialverhalten und macht soziale Interaktion für die Kleinen noch schwerer.

Definition: Frühkindlicher Autismus – was bedeutet das?

Frühkindlicher Autismus wird medizinisch als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ beschrieben, die in der ICD-10-Klassifizierung von atypischem Autismus und Asperger- Autismus abgegrenzt wird. In der Praxis ist die Zuordnung selten so eindeutig möglich, da Autismus ein komplexes, neurologisches Spektrum umfasst und die Symptome individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können.

Diagnosen nach ICD-10 bzw. ICD-11

ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“.  Es handelt sich dabei um ein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Die aktuelle Version ist ICD-10, ab 2022 gilt die neue ICD-11-Klassifikation.

Mit ICD-11 wird die altbekannte Unterscheidung in „frühkindlicher Autismus“ (Kanner-Syndrom), „Asperger-Autismus“ oder „atypischer Autismus“ verschwinden. An ihre Stelle tritt die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“, die ggf. um „Sprachentwicklungsprobleme“ ergänzt wird. In Fachkreisen sind auch die Begriffe „Low Functioning Autism“ und „High Functioning Autism“ (zu Deutsch: gering- und hochfunktionaler Autismus) üblich, um das Maß der kognitiven Beeinträchtigung zu beschreiben.

Beim frühkindlichen Autismus zeigen sich bereits vor dem 3. Lebensjahr alle nachfolgenden Phänomene in individuell unterschiedlich starker Ausprägung:

  • Probleme mit sozialer Interaktion
  • beeinträchtigte (sprachliche) Kommunikation
  • stereotype, sich wiederholende Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen, die Außenstehenden oft sinnlos erscheinen

Andere Formen von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) erfüllen nur manche dieser Kriterien oder werden deutlich später diagnostiziert.

Wissenswertes zum frühkindlichen Autismus:

  • Andere Namen: Kanner-Syndrom, infantiler Autismus, schwerer Autismus
  • Häufigkeit: 0,4–1 von 1.000 Kindern

Geschlecht: Jungen werden 2,5- bis 3-mal häufiger diagnostiziert als Mädchen.[1]

Intelligenz und Spektrum kognitiver Fähigkeiten

Aufgrund des Alters und der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten lässt sich die geistige Leistungsfähigkeit der Kleinkinder schwer messen, aber in den meisten Fällen haben sie kognitive Einschränkungen – manchmal nur leicht, manchmal sehr stark (Low-Functioning-Autismus). Aber auch eine normale Intelligenzentwicklung ist möglich (High-Functioning-Autismus); in Ausnahmefällen sind die Kinder überdurchschnittlich intelligent.

Wann kann man Autismus bei Babys und Kleinkindern erkennen?

Schon während der ersten 6 Monate können Säuglinge Kommunikations- und Verhaltensmuster zeigen, die zunächst nicht unbedingt auffallen, aber rückblickend die Autismus-Diagnose unterstützen. Mit zunehmendem Alter kommen immer mehr autismustypische Verhaltensauffälligkeiten dazu bzw. verstärken sich.

Eine frühe Diagnose für Autismus ist schwierig, denn:

  • Es gibt keine körperlichen Merkmale, die bereits bei der Geburt auf infantilen Autismus hinweisen könnten.
  • Die Entwicklungsgeschwindigkeit im Baby- und Kleinkindalter ist sehr unterschiedlich, so dass Abweichungen schwer einzuordnen sind.
  • 20–25 % der Kinder, die später eine High-Functioning-ASS-Diagnose erhalten, zeigen in den ersten 24 Monaten gar keine Symptome.[2]

Häufig sind es die pädagogischen Profis in der Kita oder Krabbelgruppe, die die Unterschiede zu den gleichaltrigen Kindern erkennen und darauf hinweisen, dass eventuell eine Entwicklungsstörung vorliegen könnte. Nehmen Sie solche Hinweise nicht als Kritik wahr, sondern nutzen Sie sie als Anlass, ärztlichen oder psychologischen Rat einzuholen. Denn eines ist klar: Eine Diagnose können nur Fachleute nach umfangreichen Untersuchungen stellen.

Sprache und Kommunikation von Kanner-Autisten

Die ersten Anzeichen von Kommunikationsproblemen zeigen Kinder mit stark ausgeprägter Autismus-Spektrum-Störung bereits im Säuglingsalter – also lange bevor sie sprechen können, wie etwa:

  • seltener Blickkontakt
  • wenig soziales Lächeln
  • kaum Mimik
  • Abneigung gegen Körperkontakt[3]

Probleme bei der Sprachentwicklung äußern sich später im Vergleich zu Gleichaltrigen bspw. durch:

  • verzögerte oder rückläufige Sprachentwicklung
  • ungewöhnliche Sprachmelodien
  • Kinder brabbeln wenig und wiederholen nur immergleiche Silben („Dadadada“).
  • Verwechseln von „du“ und „ich“
  • 15–20 % sprechen wenig bis gar nicht.[4]

Hilfe-Tipp: Für manche älteren Kinder können Alternativen zum gesprochenen Wort – wie Karten, Gebärdensprache oder Schrift – eine Unterstützung sein. Denn häufig ist der Frust, sich nicht verständlich machen zu können ein Auslöser für aggressives Verhalten.

Ab dem 2. Lebensjahr ist das Sozialverhalten von scheinbarem Desinteresse an anderen Menschen geprägt:

  • Objekte sind spannender als Personen.
  • kein Vermissen und keine Wiedersehensfreude auch bei engen Bezugspersonen
  • Abneigung gegen körperliche Nähe, kein Ausstrecken der Arme, um hochgehoben zu werden
  • keine Zeigegesten
  • Probleme, sich gemeinsam mit einer anderen Person auf eine Sache zu fokussieren
  • kein Nachahmen von Mimik oder Handlungen
  • keine So-tun-als-ob-Spiele
  • nur selten Reaktion, wenn der eigene Name gerufen wird

Therapie, Förderung und Unterstützung

Frühkindlicher Autismus kann schwere Auswirkungen auf das Leben der Familie und des sozialen Umfeldes haben. Frühzeitige Förderung und professionelle Unterstützung können eine große Hilfe sein – für die Entwicklung des Kindes und für die ganze Familie. Bei ASS haben sich verschiedene therapeutische Ansätze bewährt, wie etwa Heilpädagogik, Ergo- und Physiotherapie. Daneben gibt es noch andere Optionen, die den Alltag etwas leichter machen können, mehr dazu im Folgenden.

Psychologische Entlastung gibt es in der Familientherapie oder auch durch ein paar Stunden, in denen Ihr Kind in ambulanter Betreuung ist. Die ständigen Konflikte sind auch für den Nachwuchs anstrengend: Geben Sie ihm Rückzugsmöglichkeiten. Tipp: Aktuelle Studien[5] belegen, dass gerade die besonders belastenden Symptome wie Ängstlichkeit, Reizbarkeit oder Hyperaktivität durch probiotische Bakterienkulturen (Lactobacillus plantarum PS128) gemildert werden können.

Staatliche Unterstützung bekommen Sie z. B. wenn ein Grad der Behinderung und/oder eine Pflegestufe anerkannt werden. Außerdem hat Ihr Kind Anspruch auf eine bedarfsgerechte Kita und eine sonderpädagogische Förderung in der Schule.

Wichtig in alledem: Bleiben Sie positiv, loben Sie viel und feiern Sie auch kleine Entwicklungserfolge – denn für Kinder mit einer schweren Autismus-Spektrum-Störung ist jeder Schritt nach vorn ein großer Gewinn.

 

[1] Straßburg HS et al. Entwicklungsstörungen bei Kindern. 2. Auflage. Urban & Fischer, München/Jena 2003. S 132 f.

[2] Langfassung der Leitlinie „Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik“. AWMF online, 2016. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-018.html. Zugriff: 16.03.2021

[3] Reusch J. Symptomprofile und -entwicklung in einer katamnestischen Stichprobe von Patienten mit High-Functioning und Low-Functioning Frühkindlichen Autismus: Implikationen für das Konzept der Autismus-Spektrum-Störungen. Dissertation zur Erlangung des Medizinischen Doktorgrades. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. 2008

[4] Eberhardt M. Sprachentwicklung bei Autismus-Spektrum-Störungen. Bonner Fortbildungsreihe Sozialpädiatrie, Interdisziplinäres Symposium, 24.10.2015. https://www.bofoek.de/archiv/2015/Sprachentwicklung.pdf. Zugriff: 17.03.2021

[5] Liu YW et al. Effects of Lactobacillus plantarum PS128 on Children with Autism Spectrum Disorder in Taiwan: A Randomized, Double-Blind, Placebo-Controlled Trial. Nutrients 2019; 11: 820

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